linux-l: Ais der Welt der Toene
Florian Cramer
paragram at gmx.net
Mi Nov 3 01:42:36 CET 1999
Am Tue, 02.Nov.1999 um 13:45:09 +0100 schrieb Dr. Bernd Freistedt:
> > - Eine Kompressionsrate von ungefähr 1:10 resultiert immer noch in 50-60 MB
> > Daten für eine Stunde Musik.
>
> Mit so einer Rate kann man doch schon zufrieden sein. Das wuerden
> theoretisch 11 Stunden Musik auf einer CD bedeuten.
O.k., dennoch scheint mir MP3 weder Online-, noch Offline-Anforderunge
richtig zu erfüllen. Für 11 Stunden Musik auf einem Offline-Medium finde ich
unkompromierte 16-bit-WAVs auf einer DVD-ROM attraktiver.
> > - Eine MP3-Datei ist ein Kompilat ohne Sourcecode.
>
> Aehm, ... ein gz ist auch ein Kompilat ohne Sourcecode :-))
Aber ich kann es wieder entpacken, während auf einer MP3-Datei fertig
abgemischte Tonspuren nicht mehr trennbar sind. Vielleicht habe ich mich
in der ersten Mail unklar ausgedrückt, aber meine Kriterien an quelloffene
Audioformate richten sich flexibel nach der Art der Tonkonserve. Hier der
Versuch einer Präzisierung:
- Handelt es sich um eine Live-Aufnahme instrumentaler oder vokaler
Tonquellen, die tatsächlich nur mit zwei Mikrophonen und ohne nachträgliche
Abmischung eingespielt wurde, erfüllt in der Tat ein Stereo-WAV alle
Kriterien des "vollständigen Sourcecode".
- Handelt es sich um eine abgemischte und ggfs. mit Klangfiltern bearbeitete
Mehrspuraufnahme instrumentaler oder vokaler Tonquelllen, müßten Mischung
und Filterung veränderbar sein und die Rekonstruktion der unabgemischten
Tonspuren möglich.
- Handelt es sich um elektronische Musik, die mit Sequenzersoftware
komponiert wurde, müßte die Audiodatei zusätzlich zu den Misch- und
Filtersteuercodes den Sequenzersteuercode (z.B. im MIDI-Format) und die
einzelnen Tonsamples enthalten. Das leisten heute bereits Tracker-Formate
wie .XM, für den freien Austausch und das Recycling solcher (leider selten
interessanter) "tracks" sorgen Web-Communities wie
<www.united-trackers.org>.
- Handelt es sich um elektronische Musik, die algorithmisch komponiert
wurde, müßte der Algorithmus mitgeliefert werden, und zwar in einer
Programmiersprache, von der freie Implementierungen existieren (wie jMax
oder PD).
> Nein, Florian, nein. So funktioniert das mit Musik als
> Kunstgattung(!) nicht.
Vielleicht war in meinem Beitrag nicht klar, daß ich natürlich keine
MIDI-Steuerdateien für echte Vokalstimmen u.ä. im Sinn hatte. De facto gibt
es aber sehr interessante algorithmisch komponierte Musik (z.B. Lejaren
Hillers "Illiac Suite" von 1956/57 oder, um ein gegenwärtiges Beispiel zu
nehmen, Karlheinz Essls "Lexikon-Sonate" <http://www.essl.at>), und es gab
schon in den 80er Jahren Versuche experimenteller "Mail Music" bzw. später
in Kanada und den USA die "Plunderphonics", deren Komponisten Tonmaterial
auf Audiocassetten austauschten und kollaborativ bearbeiteten.
Ich sehe in solchen künstlerischen Praktiken unmittelbare Parallelen zum
Kollaborationsmodell der Freien Software, und es wäre wünschenswert, in
diesem Bereich auch brauchbare, freie Dateiformate durchzusetzen. (Das Gros
kollaborativer Netzmusik und Netz-Medienkunst leidet daran, Mac-zentrisch
und ohne Sensibilität für die Gefahr proprietärer Dateiformate in Opcode MAX
oder Macromedia Director programmiert zu werden.)
> Ich erinnere mich ein ein Experiment, bei dem ein Mainframe
> unter Benutzung der Parameter Bachscher Kompositionstechnik ein
> "neues" Bach-Werk fuer Orgel komponiert hat. Anlaesslich der
> Bachtage wurde es dann von einem Organisten gespielt.
> Das Ergebnis: es klang wie Bach, aber es _lebte_ nicht!
Natürlich will ich keinen Bach-Algorithmus. Schon die MIDI-Version der
Goldbergvariationen klingt grauenhaft.
> Komponieren ist halt Seelen-, Kopf- und Handarbeit - jedenfalls
> ausserhalb der Moechtegern-Synthesizer-Bediener-Mode - und die
> Interpretation auch.
Im Prinzip bin ich d'accord, würde aber einwenden, daß in zeitgenössischer
Musik produktiv *auch* mit Algorithmen komponiert wird. Betrachtet man die
Bandbreite heutiger Musik, so zeigt sich um so deutlicher, welche
stilistischen Einschränkungen MP3 auferlegt.
> Bloss mit dem Begriff "Open Source Musiker" komme ich nicht klar
> ..*grins*
Ich hoffe, es oben erläutert zu haben.
> Hoffentlich war das nicht zu sehr OT. Ich moechte glauben, dass
> Linux ein ideales Betriebssystem fuer das digitale Tonstudio
> angeben kann, sobald sich ein brauchbarer Standard fuer _ein_
> Format am Horizont zeigt.
Da liegen unsere Meinungen wohl nicht weit auseinander. Und sobald es dieses
Tonformat gibt, wird das Internet ein viel größere Rolle für das Komponieren
von Musik spielen können, und damit steigt potentiell auch die Bedeutung von
Linux. (Man stelle sich öffentliche cvs-Server für kollaboratives
Komponieren und Improvisieren von Musik vor, sei es elektronische Musik,
seien es Partituren für Instrumental- und Vokalmusik...)
Florian
(Bedenkt man, daß Musik von der Antike bis zum 17.Jahrhundert als
Nachbardisziplin der Mathematik aufgefaßt wurde, erscheint die Idee einer
quelloffenen Musik nach dem Muster quelloffener Algorithmen vielleicht
weniger abwegig...)
--
Florian Cramer, PGP public key ID 6440BA05
Permutations/Permutationen - poetry automata from 330 A.D. to
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