linux-l: Umgangsformen

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
So Sep 16 17:03:26 CEST 2001


Am Sat, 15.Sep.2001 um 15:31:27 +0200 schrieb Dietmar Bremser:

> Ver-DAN-ung des MicroSoft-Monopoles zu entziehen. [DAN = Dümmster
> anzumehmender Nutzer] Aber allgemein möchte ich kurz festhalten, dass
> in dieser newsgroup doch ein sehr merkwürdiger Umgangsstil herrscht.
> "Distro", Germano-Anglizismen (wie "einloggen, default" etc.) und
> teilweise intellektuelle Selbstüberhebung beherrschen auch hier die
> Gemüter.
> 
> Das ist schade, weil damit den potentiell Lernwilligen und
> Interessierten jede Basis entzogen wird.  Es sind ja im wesentlichen


Es gibt für "einloggen" kein gutes deutsches Äquivalent. ("Anmelden"
z.B. trifft es nicht genau; man kann z.B. auch eine
Netzwerkkonfiguration im System "anmelden".) Übrigens ist "login"
strenggenommen kein Germano-Anglizismus, sondern ein Graeco-Latinismus,
abgeleitet von dem Substantiv "logos" (Wort) und der Präposition "in".
Man müßte also im Deutschen äquivalent "sich einworten" sagen, was
keiner tut und auch keiner versteht. Was also spricht dagegen
"einloggen" als ein ebenso deutsches Wort anzusehen wie z.B. "erklären",
das vom lateinischen Adjektiv "clarus" abgeleitet ist? (Von Anglizismen
wie "Pullover" und "stoppen" ganz zu schweigen.)

Für "default" könnte man auch "Voreinstellung" bzw. "voreingestellter
Wert" oder "Standardeinstellung" sagen, das sei Dir zugestanden. Warum
aber wird in Foren wie diesem hier Jargon benutzt? Es gibt eine
internationale Computerfachsprache, die auf englischen Terminologien
beruht, die meiste Linux-Dokumentation ist englisch, alle
internationalen Fachforen im Netz, alle Fachkonferenzen haben Englisch
als Verkehrssprache. 

Auf dieser Liste diskutieren _unbezahlte Freiwillige_, davon viele
Experten, die sich täglich oder gar minütlich zwischen der
Fachkommunikation auf Englisch und der deutschen Sprache umstellen
müssen und deren Beratungsleistungen Du auch für die entsprechenden
Stundensätze bei Firmen wie der Linux AG kaufen kannst. 

Wäre letzteres der Fall, hättest Du also die Dienstleistung eingekauft,
wäre es Dein gutes Recht, auf jargonfreier Sprache und einem
Kunden-angemessenen Umgang zu bestehen. Du bist hier aber kein Kunde,
sondern Teil einer selbstorganisierten Kultur. Dein Appell an die
Umgangsformen dieser Liste wäre nur dann ernstzunehmen, wenn Du selbst
helfend zu ihr beigetragen hättest. Das ist etwa so, als wenn Du an
einem selbstorganisierten Feriencamp teilnehmen würdest; andere stellen
die Zelte, bauen sie auf, fahren Autos, kümmern sich um die
Einkaufslogistik. Auch wenn Du dieses praktische Wissen noch nicht hast,
bist Du herzlich eingeladen - und zwar kostenlos und unverbindlich -
mitzureisen und Dir das Wissen anzueignen. Aber man erwartet dann auch
von Dir, daß Du Dich nicht verhältst wie der Kunde eines kommerziellen
Reiseveranstalters und Dich anschließend über eine unbequeme Busfahrt,
zu lautes Singen oder Mücken im Zelt beklagst. 

Um es hart zu sagen: Wenn Dir das zu anstrengend ist, buch Deine Reise
bei TUI. Auf GNU/Linux bezogen heißt das: Kauf Dir einen
Dienstleistungsvertrag z.B. von der Linux AG, Ehrenbergstraße,
Berlin-Friedrichshain. Das ist eine gute Firma, und sie verdient - wie
viele andere gute Linux-Firmen - mehr Kunden. 

Wenn Du also gegen Verdummung durch Proprietarisierung und Kommerz
anredest, wie Du es zu Beginn Deiner E-Mail getan hast, dann trete hier
bitte nicht wie ein Kunde auf.

Ich bin zwar auch nicht immer glücklich über den Umgangston in
Linux-Foren, aber z.B. hat mich Dein Beitrag so geärgert, daß ich kurz
davor war, Dir hier mit dem Flammenwerfer zu antworten. Und deshalb sind
mir genervte Reaktionen letztlich doch verständlich. Keine Wirkung ohne
Ursache.

 
> Und leider sind die Themen hier zumeist sehr speziell.

Ja, mein Gott, was willst Du denn mehr? Allgemeine Themen und Antworten
liefert Dir jedes HOWTO und jede Linux-Website. Es ist doch die _Stärke_
und besondere _Leistung_ dieses Forums, daß wir uns _individuell_ bei
_speziellen_ Problemen und Fragestellungen weiterhelfen. 

> Ja, mir ist bewusst, dass nur Eigeninititive (Beiträge, Kommentar,
> Fragen) zum Ziel führen. 

Richtig. Es ist aus meiner Sicht sogar völlig in Ordnung, dies nicht zu
wollen und zu anstrengend zu finden, aber dann soll man bitteschön
kommerzielle Dienstleister in Anspruch nehmen. Um die bekannte
GNU-Definition zu zitieren: Es geht in freier Software um Freiheit,
nicht um Freibier.

> Allerdings sollte in den erhabenen Kreisen der LINUX-Hacker, -Nutzer
> und Pseudo-Hacker so langsam die Botschaft ankommen, dass sie kein
> elitärer Kreis mehr sind.  

Deine Logik stimmt nicht. Es gibt in Foren wie diesen hier nicht eine 
Unterscheidung von "Linux-Hackern" und "Benutzern", sondern jeder hilft
hier jedem, so gut er oder sie das kann. Wir können aber keine
unendlich geduldige Kundenbetreuung anbieten, weil es hier keine Kunden
gibt und wir keine beruflichen Dienstleister sind. Ich habe hier vor ca.
vierzehn Tagen einem offenbar frustrierten Anfänger eine, wie ich
glaube, sehr verständnisvolle, detaillierte und jargonfreie
Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Lösung seines Problems geschrieben.
Das hat mich mindestens eine halbe Stunde gekostet, die ich von meiner
viel zu knappen universitären Arbeitszeit geopfert habe. Ich verwende
diese Zeit viel lieber darauf, meinen Studenten Hilfen bei
literaturwissenschaftlicher Arbeit zu geben und mit ihnen über ihre
Ideen zu diskutieren als auf das, was ich manchmal halbernst
"Computer-Klempnerei" nenne. Das Resultat der Bemühung war, daß sich der
Frager wohl mit Verwünschungen an ein anderes Mitglied dieser Liste
verabschiedet hat. Ich werde mir diese Mühe, außer bei Freunden und
Bekannten, deshalb nie wieder machen. Und ich könnte mein Berufs- und
Privatleben wegschmeißen, wenn ich mir jedesmal diese Mühe geben würde.

Weil das nicht nur mir so geht, kann diese Liste nur Leuten helfen, die
bereit sind, den Weg so weit selbst zu gehen, wie sie es können, und nur
einen Hinweis auf die richtige Richtung brauchen.

> Und dass LINUX schon wegen seiner Natur des sogenannten "Copylefts"
> nicht zur Alternative werden kann, wenn man nicht zwischen Haus und
> Hof, genauer an der Eingangsschwelle, mal eine Stufe setzt.  

Ich weiß nicht, ob Du Dich hier nicht selbst in Deiner Sprache
verheddert hast.

> Für dieses Betriebssystem gibt es zwar mittlerweile einige Starthilfen
> (Dokumente und Installation) aber für einen Neuling, der sich nicht
> für ganz dumm hält und auch mal die Konsole ausloten möchte, endet die
> Reise bald im Daten-Nirvana.

Nein, kann ich nicht bestätigen. Ich habe 1997 den Umstieg vom Macintosh
- einem gegenüber Unix/Linux fast gegenteilig konzipierten System - auf
Debian GNU/Linux - der Distribution ohne jeglichem Plug'n'Play mit
Hilfe guter Anwender-Handbücher (wie z.B. dem Kofler) gut geschafft.

> Sonst würde es sicher nicht diese newsgroup geben, oder?

Es gibt für jedes Betriebsystem, auch Macintosh und Palm Pilot, solche
Foren, in denen Anwender sich gegenseitig helfen. Weil die
Anwendungsmöglichkeiten des Unix/Linux-Systems ungleich komplexer sind
(heterogene Vernetzung, Server-Dienste, SQL-Datenbanken,
kryptographische Netzwerkprotokolle, Firewalling) und eine sogenannte
Linux-Distribution nicht nur das nackte Betriebssystem, sondern auch
sämtliche Anwendungssoftware enthält, steigt logischerweise auch die
Komplexität der Probleme. Das ist bei Windows NT/2000 und MacOS X nicht
anders, vor allem, wenn man sich vorstellt, beide Systeme würden nicht
nur nackt, sondern mit einem Riesenpaket von Anwendungssoftware
ausgeliefert. Wenn ein Macintosh-Benutzer Probleme mit Photoshop hat,
diskutiert er sie in einem Photoshop-Forum, das getrennt vom MacOS-Forum
existiert, wenn ein Linuxer Probleme mit The Gimp hat, diskutiert er sie
hingegen auch im Linux-Forum. Hinzu kommt, daß wir in der Freien
Software durch Selbsthilfe versuchen, Probleme zu lösen, für die in
proprietären Software-Welten tausende kommerzielle Hotline-Nummern
existieren.

> Ich will niemanden angreifen.  Allerdings möchte ich nur eine Anregung
> geben, dass sich die "Jetzt-Professionellen" auf ihre ersten Schritte
> besinnen und dort vielleicht einige Anregungen geben.  Und auch einmal
> kurz an die Daten-Ökonomie denken.

Letzteres solltest Du lieber tun.

Florian

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