[linux-l] von der Natur der Informatik

Axel Weiß aweiss at informatik.hu-berlin.de
Do Jun 24 16:51:08 CEST 2004


Frank Reker schrieb:
> Axel Weiß disse:
> > o was die Physik als Wissenschaft qualifiziert, ist die Modellbildung
> > über Phänomene (der 'realen' Welt. Die Modelle z.B. der Quantenmechanik
> > haben mit
> > der Natur nicht mehr viel zu tun, weil sie nur in bestimmten Skalen
> > definiert
> > sind, die der natürlichen Empfindung nicht zugänglich sind).
> >
> > o was die Physik als *Natur*-Wissenschaft auszeichnet, ist die Tatsache,
> > daß
> > ihre Modelle konkrete Auswirkungen auf die Natur haben (Elektrizität,
> > Kernkraft, Tschernobyl).
>
> 1. ein Modell hat keine Auswirkung! Ein Modell beschreibt ein
> Phaenomen, basta! Im hoechstfall hat die Umsetzung des Modells
> in ein technisches Produkt eine Auswirkung, aber das ist bereich
> der Ingineurwissenschaften.

So? Das sehe ich entschieden anders. Um bei der Physik zu bleiben: Heerscharen 
von Physikern erforschen z.B. Materie/Materialien, um supraleitende oder in 
hoher Dichte speichernde Stoffe zu entwickeln. Dabei gehen die Entwicklung 
von Modellen und deren Erprobung/Anwendung Hand in Hand.

Oder noch krasser: ohne die Entwicklung der Atombombe hätte man die Modelle 
zur Beschreibung der Kernspaltung nicht aufstellen können - und umgekehrt.

> 2. eine Naturwissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie
> Phaenomene der Natur beschreibt und anhand von Modellen zu
> erklaeren versucht. Natur ist alles was evolutif entstanden ist,
> und nicht von mehr oder weniger intelligenten Lebewesen erzeugt
> wurde. Letzteres ist Technik. (Die exakte Abgrenzung ist
> natuerlich nicht immer ganz trivial (aber welche Abgrenzung
> ist das schon).)

Dann wäre aber die Physik schon lange keine Naturwissenschaft mehr.

> 3. die Informatk beschreibt keine natuerlichen Phaenomene.

Das kommt auf die Betrachtung an. Information ist Bestandteil der Natur (nach 
Deiner Definition oben, sonst gäbe es keine DNA).

> 4. die Quantenmechanik beschreibt durchaus die Natur, halt
> auf kleinster Ebene. Aber die Natur ist nicht eingeschraenkt
> auf Phaenomene die wir direkt wahrnehmen. Das waere eine zu
> enge Definition.

Was ich sagen will, ist
WENN die Physik eine Naturwissenschaft ist, DANN ist es die Informatik auch. 
(ich könnte statt Physik auch Chemie sagen, weil die betreffenden Aussagen im 
Wesentlichen auch auch für die Chemie zutreffen).

> > Die theoretische Informatik gehört zur Informatik, wie die theoretische
> > Physik
> > zur Physik. Beide bedienen sich der (oder gründen sich auf die)
> > Mathematik,
> > damit die Leute über ihre The[ms]en kommunizieren können.
>
> und was hat das mit der Aussage zu tun, dass die theoretische
> Informatik eher hilfswissenschaftlichen Charakter und die
> anwendungsorientierte Informatik eher Ingineurwissenschaftlichen
> Charakter hat?

Keiner würde auf die Idee kommen, die theoretische Physik als 
Hiflswissenschaft hinzustellen. Oder theoretische Chemie.

Ich denke da 'ganz'heitlicher. Jede (Natur)Wissenschaft hat ihren 
theoretischen Teil, der sich der Mathematik bedient und Modelle formiliert, 
die in ihrem praktischen Teil überprüft, erweitert und angewandt werden.

Und, um Euch weiter zu provozieren, gilt das für die Mathematik auch: der 
theoretische Teil beschreibt die Modelle (Logik, Axiomatik, Prädikatenlogik, 
Beweise), und der praktische Teil liefert nützliche Sätze (Algebra, 
Geometrie, Zahlentheorie, Funktionentheorie, Graphentheorie usw.). Seit Gödel 
wissen wir ja, daß die Mathematik selbstbezüglich ist und gewissermaßen für 
sich selbst die Theorie liefert.

Ich bleibe (erstmal) dabei: Informatik ist (als Ganzes) eine 
Naturwissenschaft, und Information ist ein Grundbestandteil der Natur.

Gruß,
			Axel

-- 
Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Informatik
Signalverarbeitung und Mustererkennung
Dipl.-Inf. Axel Weiß
Rudower Chaussee 25
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