[linux-l] Demo-Eindrücke

Thorsten Stöcker tstoecker at baerensoftware.de
Do Sep 27 02:22:22 CEST 2007


Hi,

>
> Sagen wir es mal so: Gut, wenn man das Gefühl haben kann, daß diese nicht
> das Ende der deutschen Demokratie einläuten, wie Anfang der Dreißiger.
>

Das ist es was ich meine, ein paar randalierende Knallköppe sind nicht das 
Problem, das Problem sind die, die deswegen nach Überwachung schreien.

> Ich fühle mich eigentlich ganz wohl in Melbourne, auch ohne daß um den
> 1.Mai regelmäßig Randale stattfindet. Das die hier ausbleibt, ist mit
> Sicherheit nicht meine größte Sorge.
>

So, die letzten Jahre war es eher ruhig, wobei der 1.Mai hier sicher einen 
anderen kulturellen Hintergrund hat. Mich würde nur interessieren, wieviele 
überhaupt wissen, warum der Tag der Arbeit auf den 1.Mai fällt und was der 
Hintergrund (der durchaus gewalttätig und aus Sicht der damals herrschenden 
Meinung der schweigenden Mehrheit ein Angriff auf das System darstellte) war. 
Ich nehme an, es weiß keiner. Alles andere würde meine persönliche Statistik 
ändern.

> Die gewalttbereiten und auch gewalttätigen Horden habe ich das erste Mal
> am 30.April 1991 am Kollwitzplatz erlebt, 

Mein Gott, das ist ne Ewigkeit her.

> als sie die dort stattfindende 
> Walpurgisnachtsfete sprengten, Autos anzündeten, ein Lagerfeuer
> auseinanderstiebten etc.
>
> Das war damals ein alternatives Straßenfest, es waren Familien dort,
> Kinder .. und kaum Polizei. Soviel zum Thema "Aufrüstung" gegen den
> Polizeistaat..
>

Tja, so kann nur jemand reden, dem die Zeit von 1980 an ab unbekannt ist.
Ich könnte jetzt fragen, warst Du in Kreuzberg, Wackersdorf, bei 
Startbahn-West, Gorleben? Bist Du erkennungsdienstlich behandelt worden, weil 
Du bei der Anreise zu einer Demo einen gefüllten Reseverkannister mit 5 Liter 
Benzin dabei hattest? Warst Du schon mal in einer Menge, wo die Polizei im 
Kampfanzug vorne und hinten abgeriegelt hat und dann hies es Knüppel frei? 
Bist Du schon mal bei einer Prügelorgie durch den fließenden Auto-Verkehr vor 
der Polizei davongerannt? Nein? Nun könnte ich sagen, was reißt Du hier das 
Maul auf? Ich sage es nicht, weil die individuellen Erlebnisse nur 
Schlaglichter sind und die persönliche Betroffenheit den Blick auf das große 
Ganze verstellt. Es gibt Leute die legen sich für ihre Überzeugung mit einem 
übermächtigen Gegner an und es gibt Leute die warten ab. Beide zahlen die 
Rechnung für ihr Verhalten, die einen so, die anderen anders.

Nein, das ist natürlich keine Entschuldigung dafür, es ist die Erklärung. 
Natürlich sind  Leute die friedliche Straßenfeste stören ein untolerierbarer 
Eingriff in die Grundrechte der Leute die dort feiern und ich hoffe, man hat 
sie alle gekriegt. Aber auch das ist eine Auswirkung, man sollte sich davor 
hüten Ursache und Wirkung zu vertauschen. Und ein einzelner Fall, läßt auch 
keine Rückschlüsse auf das Gesamtbild zu. Das wäre unseriös.

> Und seitdem sind wir im Prenzlberg diese Fackelträger der Zivilisation
> nicht mehr losgeworden.
>

Oh, wir sind hier ganz andere Fackelträger der Zivilisation nicht losgeworden. 
Eine davon ist gerade Bundeskanzler(in).

> Bei der 47. Neuauflage deren Auftritts von "ein bißchen gefährlich
> aussehend, aber doch ganz nett" auszugehen, ist wohl doch ein bißchen
> zuviel verlangt.
>

Weißt Du Peter, ich habe ein paar Demos mitgemacht (ein paar viele, auch 
welche mit richtig Streß), ich kenne ein paar Leute bei der Polizei. Mach Dir 
nichts vor, auch die Polizei wartet nur auf die Vorlagen. Es ist ein 
Kräftemessen bei der die staatliche Seite immer im Vorteil ist. 

> Nebenbei ist es auch die Aufgabe der Polizei, für die Sicherheit von
> Anwohnern und deren Gutes zu sorgen. 

Was soweit erst ein Mal richtig ist. Nur gilt auch hier, die 
Verhältnismäßigkeit der Mittel.

> Versuch mal, Deine Sympathie zu 
> verbergen, wenn Du in der Gegend wohnst, und jedes Mal Dein Auto anderswo
> verstecken mußt oder zu riskieren, nächsten Morgen eine ausgebrannte Ruine
> vorzufinden.
>

Ich versteh das Problem nicht. Ob ein Idiot im Rahmen einer Demo Dein Auto 
abfackelt oder weil Du im zum 102. Mal den Parkplatz vor dem Haus geklaut 
hast, ändert nichts an der Tatsache. Beides Mal ist es Sachbeschädigung in 
Tateinheit mit Brandstiftung. Die Wahrscheinlichkeit den Täter zu kriegen ist 
gleich, es sei denn, man schränkt im ersteren Fall die Grundrechte aller 
anderen unzulässig ein. Und da Du Dich so gerne (wenn auch falsch verstanden) 
auf den Rechtsstaat berufst, steht hier das Grundrecht einiger hundert bei 
tausend Leute nach Art. 2 GG i.V. Art . 1 GG i.V. Art. 5 GG i.V. Art 8 GG  
gegen Dein Recht nach Art. 14 GG.  Aber auch nur für den Fall, das Dein Auto 
abgefackelt wird. Ansonsten steht Deine Besorgnis gegen ein paar Artikel des 
GG.

> Der genannte unbewaffnete Polizist in Grossbritannien setzt eben eine
> andere Kultur voraus, den respektvollen Umgang miteinander (der mit dem
> "Sorry" anfängt, welches man hier oft zu hören bekommt, wenn man dem
> anderen auf den Fuß getreten ist.. vergleich daß mal mit der berühmten
> Berliner Freundlichkeit.)

Du warst schon in England nehme ich an, speziell in London. Sehr speziell nach 
23:00 Uhr. Mir scheint, ausser der DDR und Australien kennst Du nicht sehr 
viel. In England ist das Klassenbewußtsein sehr viel stärker ausgeprägt als 
Du Dir das vorstellen kannst. Das Komasaufen und das Flatline-Saufen sind 
englische Erfindungen (übrings auch das KZ). Auif den Bobby wird nicht 
geschossen, weil er, im Gegensatz zum Cop unbewaffnet ist. Beide (Cop und 
Bobby) pflegen ähnlich der deutschen Polizei keinen besonders höflichen 
Umgang mit potentiellen Störern. Allen dreien ist ein latenter Rassismus zu 
eigen, der sich insbesondere dann zeigt, wenn offensichtlich ist, das Du 
Ausländer bist. Wobei es einen kleinen Unterschied gibt, die Amis bewundern 
Dich dafür, das Du ausser Deiner Muttersprache noch Englisch kannst, die 
Engländer (obwohl auch nur mehrheitlich einsprachig) schauen auf Dich herab, 
wenn Du Ihre Sprache nicht perfekt sprichst.
Zu der Berliner Freundlichkeit kann ich nur sagen, und das ist sicher nicht 
repräsentativ, das meine Freundinnen (Karlsruhe Frankfurt, Bad Homburg) 
Berliner als freundlich empfunden haben, gegenüber dem was sie aus ihrer 
angestammt Umgebung gewohnt waren.
>
> Ich denke, diese ganze inzwischen leider schon endlose Diskussion zeigt
> recht deutlich, daß Deeskalation, beginnend im mentalen Bereich, nicht
> unbedingt eine deutsche Stärke ist.
>

:-) was hat eine Diskussion mit Deeskalation zu tun? Nichts. Das ist ein 
Scheinargument. Vor allem in Hinblick auf "deutsche".

> Allerdings sind überall in der westlichen Welt wohl die Weichen nicht
> gerade auf Entspannung gestellt, leider.
>

Political Correctness ist etwas, was man sich besser nicht leisten sollte, es 
ist offensichtlich verlogen.

> Schön, wenn man dann so witzige Möglichkeiten findet, den Sicherheitswahn
> auf die Schippe zu nehmen, wie es hier zum G20-Treffen in Sydney die
> "Chasers" fanden, eine Kabarettistentruppe vom öffentlichen Fernsehen,
>

Die Frage dabei ist, ob es das verhindert. Wackersdorf, überhaupt nicht 
witzig, war sehr erfolgreich, oder auch Kalkar.

> mit einer Limousine, Kanadaflagge und ein paar "body guards" einen
> Statttskonvoi vorzutäuschen, alle Kontrollen zu überwinden, um sich ein
> paar Meter von Bushs Hotel als Osama bin Laden verkleidet die Beine zu
> vertreten..
>

Ja, nette Idee. Hat es was gebracht?

> BTW: Ich kann mich an Momente des Anfangs erinnern, als die Ossis noch zu
> ähnlichen Mitteln fanden. 

War irgendetwas witzig daran, mir kam es wie der Mut der Verzweiflung vor, 
aber das ist individuell.

> Als Momper die Polizei anderer Bundesländer zu 
> Hilfe rief, 

Was in Berlin seit Lummer Tradition hat, weil die Berliner Polizei ab und an 
nicht so ganz willig ist. :-) Was dann immer meine Hoffnung bestärkt, das 
doch nicht alles verloren ist.

> um in der besetzten Mainzer Straße für Ordnung zu sorgen, 
> erinnerten sich Leute daran, daß die Prager 1968 alle Straßenschilder
> abmontierten, um den Russen die Orientierung zu erschweren. Im
> Friedrichshain/Prenzlberg wurden großflächig Straßenschilder mit "Mainzer
> Straße" überklebt:-)
>

Ja, das war eine nette Idee.

> Die Demos der End-DDR-Zeit waren auch oft eher witzig, und nicht unbedingt
> erfolglos..
>

Naja, ich will ja niemanden den Glauben nehmen, insbesondere auch deshalb, 
weil ich Respekt vor Leuten habe, die ihre Ansichten hochhalten, aber es ist 
wohl so, das den Demos nichts mehr entgegengesetzt werden konnte, weil der 
Staat pleite war. Es wußte zwar damals wahrscheinlich kaum einer, deshalb 
verdient jeder den Respeckt.

> Aber dank der Kreuzberger Knallfroschszene, die dann zum Kollwitzplatz
> rüberzog, vollzog sich die Angleichung der Demo-Kultur an westliche
> Verhältnisse schnell:-( Dagegen hilft leider kein Witz, die nehmen sich
> einfach zu ernst.
>

Du siehst das etwas zu indifferenziert. 

"westliche" Demokultur <> schwarzer Block <> Gewaltbereitschaft

Es sind Teilmengen. Und wie sich die Ossis dagegen wehren als Stasi-Spitzel 
und Verräter gebrandmarkt zu werden, so ist Deine Sicht auf die westliche 
Demokultur schlich ausgemachter Schwachsinn, der auf einer wissentlichen, 
plakativen Unwahrheit beruht.

Um es mal mit einem Zitat auszudrücken: Goebbels wäre stolz auf Dich.

Oder anders herum, Rosa Luxemburg etwas abgewandelt:
Die (Rede-)Freiheit, ist immer die (Rede-)Freiheit des Anderen.

Oder wissenschaftlich:
Jede Aktion erzeugt eine erwünschte und mindestens eine unerwünschte Reaktion. 

Nun ja, es ist so langsam der Zeitpunkt gekommen, wo viele Leute sagen, der 
Kerl hat zu allem was zu sagen. :-) Was nicht wahr ist. Aber ich lasse die 
Leute gerne in dem Glauben, die Überraschungen sind dann meist um so größer.

CU soon.

Thorsten


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